Der ungewöhnliche Weg einer Ukrainerin zum Pflegeberuf
Augsburg, 28.07.2020 (pca). Rund 80 Prozent der Frauen und Männer, die derzeit den Beruf der Altenpflege an der Caritas-Pflegeschule Augsburg erlernen, haben einen Migrationshintergrund. Auch Altenpflegeheime könnten ohne Pflegekräfte mit einem nichtdeutschen Hintergrund nicht mehr existieren. "Sie sind also systemrelevant", sagt Jessica Egger, Lehrerin an der Caritas-Pflegeschule. Sie kommen aus anderen EU-Staaten wie Polen, Rumänien, aber auch aus Nicht-EU-Staaten wie der Ukraine oder auch aus arabischen Staaten. Oksana Boiko (24) aus der Westukraine gehört zu ihnen. Sie hat soeben ihr zweites Ausbildungsjahr auf ihrem Weg zur Pflegefachkraft erfolgreich abgeschlossen. Wären die Lebensumstände in ihrer Heimat anders gewesen, hätte sie vielleicht einen anderen Beruf ergriffen. Doch heute sagt sie "alles ist gut so".
Die junge Ukrainerin Boiko ist ein grundehrlicher Mensch. Den Eindruck gewinnt man jedenfalls von ihr, wenn man die Gelegenheit, mit ihr über ihren Weg in die Altenpflege zu sprechen. Sie spricht nicht von einem Ruf, weil sie gerne mit Menschen arbeiten möchte, gut mit alten Menschen umgehen könne oder einen Beruf suchte, der ihr mehr bietet als nur ein festes Gehalt. So erzählt sie von ihrer Herkunft, die man kennen muss, um sie zu verstehen. Ihre Heimat ist ein kleines Dorf in der Westukraine, "so klein, dass man es nicht einmal auf der Karte findet. Sie war ein braves und gutes Kind, lernte immer fleißig (auch weil gute Noten entscheidend waren für das Schulgeld), half ihren Eltern über das ganze Jahr hinweg in der Landwirtschaft mit. Mit 15 Jahren begann sie Grundschulpädagogik im College von Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, zu studieren. Der Ausbruch des Konfliktes der Ukraine mit Russland wirkte sich auch direkt auf sie aus. Die Anforderungen an ein Stipendium wurden immer höher geschraubt, weil das Geld an anderer Stelle gebraucht wurde. Je höher die Anforderungen, so größer war nach jeder Prüfung die Unsicherheit, ob man weiter studieren könne. Baiko biss sich mit Erfolg durch Im Juni 2015 schloss sie ihr Studium erfolgreich ab.
In der Zeit hatte sie etwas Deutsch gelernt. Als eine Agentur für die Möglichkeit warb, in Deutschland als Au-pair-Mädchen zu arbeiten, griff sie zu. "Die Ukraine damals bot keine Zukunft für mich." Sie machte einen Test in der Deutschen Botschaft in Kiew, bestand ihn und nahm die Einladung, bei einer Familie in Augsburg-Hochzoll ab September 2015 als Au-Pair-Mädchen in der Familie mitarbeiten zu können gerne an. Ein Glücksfall für sie. Der Vater der Gastfamilie meldete sie sogleich für den A-1-Deutschkurs an. Ein weiteres Jahr im Salzburger Land folgte. Sie konnte dort an einem Online-Ausbildungskurs für die pädagogische Betreuung und Begleitung von Kindern teilnehmen.
Sie wollte aber immer noch nicht zurück in ihr Heimatland. Der Konflikt ist bekanntlich bis heute nicht überwunden. Boiko entschied sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr. "Ich wollte zurück nach Augsburg", sagt sie. Ihr Problem: Sie hatte keine Wohnung. Im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) konnte ihr nur die eine Wohnung gestellt werden, wenn sie es im Bereich der Altenpflege leistet. "So kam ich zum Caritas-Seniorenzentrum St. Raphael", berichtet die junge Frau über den nächsten Schritt in ihrem Leben. "Das mache ich nun, das wird sicherlich eine gute Erfahrung für mich sein." Schließlich sei es in ihrer Heimat undenkbar, dass sich junge Familienmitglieder nicht um die alten Menschen in der Familie kümmern würden.
Danach wollte sie eigentlich in den kaufmännischen Bereich. "In Mathe war ich immer gut." Doch da machte ihr die deutsche Gesetzgebung mit der "Vorrangprüfung" einen Strich durch die Rechnung. Bewerber aus Deutschland oder einem EU-Staat genießen dabei eine rechtliche Vorrangstellung und müssen bevorzugt behandelt werden. Bei Pflegeberufen greift dieses Prinzip wegen des übergroßen Personalmangels nicht.
Oksana Boiko ist kein Mensch, der das Handtuch wirft, wenn das Leben sich anders gestaltet, als gewünscht, erhofft oder erträumt. "Dann mache ich das jetzt", sagte sie zu sich schließlich, auch weil sie in Deutschland bleiben wollte. Und dann machte sie im Rahmen ihrer praktischen Ausbildung im Augsburger Antoniushaus, einem Seniorenzentrum der CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH, für sich eine gute Erfahrung. "Du wirst wirklich gebraucht. Das ist schon toll", sagt sie.
Mit ihrer Entscheidung, die Ausbildung zur Altenpflegerin an der Caritas-Pflegeschule Augsburg zu beginnen, setzte sie nicht nur ihr Streben, das, was auf sie zukommt, so gut wie möglich zu machen, fort. Sie ist über sich selbst erstaunt, mit welcher Begeisterung und mit welch großem Interesse sie tiefer und tiefer in die Ausbildung einstieg. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so für Anatomie interessiere. Heute ist es mein Lieblingsfach." Sie bereut ihren Schritt zur Ausbildung nicht. "Ich habe so viel Wissen mir aneignen können."
Ob sie denn an den Praxisstellen während ihrer Ausbildung denn nie negative Erfahrungen wegen ihrer nichtdeutschen Herkunft gemacht hätte? Eine Frage, um deren Antwort sie keine Sekunde verlegen ist. "Die gab es nicht. Die Menschen hier halten nur automatisch mehr Distanz als bei uns zuhause." Einmal sei ihr von einer Schulkollegin erzählt worden, dass jemand einmal über die Ausländer geschimpft hätte. Doch das sieht Boiko gelassen. "Wenn wir ‚Ausländer‘ gehen, wird die deutsche Wirtschaft ein riesengroßes Problem haben. Viele Firmen müssten schließen. Egal wo, ob in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Industrie, im Bereich der Medizin oder in der Pflege. Dann wäre ich gespannt, wie die Menschen auf den Auszug von uns ‚Ausländern‘ reagieren würden."
Da ist noch ein Punkt, den sie in ihrer Ausbildung zur Pflegefachkraft an sich selbst erfahren hat. In der Pflege arbeiten auch viele Frauen mit russischem Hintergrund. Ukrainer sind aufgrund der Geschichte und des gegenwärtigen Konfliktes nicht immer gut aufeinander zu sprechen. In der Altenpflege habe sie gelernt, auf was es wirklich ankommt: "Egal, woher Du kommst, es kommt darauf an, was für ein Mensch Du bist." Oksana Boiko fügt hinzu: "Es reicht nicht aus, alles über Pflege zu wissen, Du musst auch den Beruf mögen. Und das tue ich."